Die ComicInvasion ist neugierig geworden auf Comicszenen anderswo und zeigte letztes Jahr Comics aus Schweden. Auf das Land Argentinien kamen wir durch das 25. jährige Bestehen der Städtepartnerschaft von Berlin und Buenos Aires, die letztes Jahr gefeiert wurde, allerdings ohne besonderen Blick auf Comics. Dafür sind wir da und haben dieses Jahr dazu Einiges auf die Beine gestellt:

Mit der Beteiligung von Zeichner*innen aus Argentinien bei Streamvasion-Events, die noch auf facebook und youtube zu sehen sind, mit Kurzbeiträgen in mehreren Heften des Treasure Hunt-Comics im Sommer (ob sich noch welche finden lassen?), mit einem Workshop am 24.11. und einem transatlantischen Livezeichnen on demand am Festivalwochenende am 28. und 29.11.2020 und natürlich mit jeder Menge Comics als digitale Ausstellung und auch in Form von original Zines und Comicbüchern, käuflich erwerbbar bei unserem Argentinien-Comic-Verkauf in neurotitan und Renate-Comicbibliothek, laden wir euch zum Kennenlernen von Comics aus Argentinien ein, einem comicmäßig sehr spannenden Pflaster!

Zur Einführung

von Lea Hübner

Die aktuelle argentinische Comicszene ist sehr vielfältig und produktiv, wenn auch der Comicmarkt sehr überschaubar und absatzschwach ist. Die Zeiten einer reichen Produktion an Comics als feste Größe des Konsums von Unterhaltung und Kultur in Printform, gleichermaßen lukrativ für Zeichnerinnen wie Verlagshäuser, sind lange vorbei und bleiben verbunden mit Namen von Größen wie beispielsweise Héctor Oesterheld, dem Autor des Klassikers Eternauta (in Deutsch erschienen bei avant 2016).

Argentinien ist durch koloniale Abhängigkeit bis heute ein von Wirtschaftskrisen geprägtes Land, wie dargestellt von Nacha Vollenweider (siehe auch Streamvasion 02.07.20 und Strapazin # 138), die sich in ihrer Graphic Novel Fußnoten (in Deutsch bei avant 2017) mit persönlicher wie nationaler Identität auseinandersetzt. Bei drei großen Wirtschaftskrisen innerhalb von dreißig Jahren blieben die Auswirkungen auch auf den Kunst und Kultursektor nicht aus.

In Ermangelung entsprechender Infrastruktur und Fördermöglichkeiten gilt es heute mehr denn je selbst Motor zu sein und kreativ auch bei der Schaffung von Möglichkeiten der Veröffentlichung und Verbreitung von Comics. So entstanden Netzwerke, gemeinsame Produktionen in Kollektiven oder in periodischen Heftausgaben sowie die Schaffung von Plattformen für Sichtbarkeit, gleich ob digital oder in Form von (selbstorganisierten) Festivals. Flora Márquez zum Beispiel, Autorin von Vasto Mundo, gründete 2018 gemeinsam mit anderen Las Fieras, eine Comiczeitschrift in digitalem Format und Caro Chinaski ist Teil des internationalen Kollektivs Chicks on Comics.

Sich eine Existenz als Zeichnerin aufzubauen ist heute in Argentinien sehr schwierig, aber in Einzelfällen, wie dem international erfolgreichen Cartoonisten Liniers, durchaus möglich. Jedoch trifft in der Regel das auch hierzulande bekannte Phänomen zu, dass es für Comicschaffende einträglich ist, zusätzlich im Bereich Illustration tätig zu sein. Darüber hinaus tut es gut auch noch weitere Standbeine zu haben, wie z.B. der Künstler Antolín, der auch Musiker ist und Autor von Lyrik, was auch ein wenig auf seine Comictexte abfärbt, etwa in Planes para toda la vida. Ebenso – und auch das ist uns hier bekannt – bieten Lehrtätigkeit, Vorträge, Workshops, Kurse den Comiczeichner*innen eine Einkommensquelle.

Mikro- und Makroperspektive

Die aktuelle argentinische Comicszene folgt keiner einzig argentinischen Tradition oder dergleichen, sie ist permeabel, die Portugiesin Júlia Barata oder die aus Ecuador stammende Powerpaola, deren autobiografische Graphic Novel Virus tropical [Link zum trailer] international bekannt und verfilmt wude (gezeigt auf der Berlinale 2019), gehören ebenso dazu. Die „Mikroszenen und Teilgruppen“, die die heutige Szene ausmachen, sind, wie Amadeo Gandolfo im Strapazin # 138 beschreibt (in Auszügen im Podcast), grenzen sich ab, beziehen sich aufeinander, sind miteinander verschränkt, durch freundschaftliche Verbindungen, oder auch interessengeprägt.
Und die Beschäftigung, mit dem, was in verschiedenen Kontexten so passiert, beschränkt sich nicht allein auf Argentinien – die Produktion von Comicschaffenden ganz Lateinamerikas prägt über Landesgrenzen hinweg eine enorme Vielfalt an Narrativen und Techniken, aber auch die Präsenz ähnlicher Themen wie koloniales Erbe, politische Instabilität, Erfahrung der Diktatur, Rassismus, Gewalt, soziale Ungleicheit, Prekarität (nicht nur) im Hintergrund. Das vermittelt eindrucksvoll die 2017 von José Sainz und Alejandro Bidegaray in Buenos Aires herausgegebene Anthologie El Volcán zum lateinamerikanischen Comic der Gegenwart (2017), in dem Zeugnisse von 42 Comicschaffenden der verschiedensten Länder der Weltregion versammelt sind. Der Band zeigt: Dass der Blick nicht mehr unbedingt nach Nordamerika oder Europa geht, zeugt von einem wachsenden Selbstbewusstsein und dem Interesse einander Kennenzulernen, zu erforschen, was eint, was trennt und Position zu beziehen.

Eine Rolle spielen auch politische Forderungen, zum Beispiel der feministischen Bewegung, mit Vertreterinnen wie Jazmín Varela und Victoria Rodríguez (siehe Streamvasion 08.07.20). Beiträge der beiden sowie 21 weiteren Künstlerinnen stellt die 2019 erschienene Anthologie zeitgenössicher argentinischer Comichzeichnerinnen PIBAS vor, in der sich die Diversität einer neuen Generation manifestiert.

Da das schweizer Comicfestival Fumetto dieses Jahr auch einen Fokus auf den aktuellen argentinischen Comic geplant hatte, zeigt die Frühjahrsausgabe des Strapazin # 138 Comics aus Argentinien u.a. von El Waibe und María Luque, die wir – mit Dank an Strapazin! – hier ebenfalls zugänglich machen. Alle Comics darin, wie auch die unserer CIB-Argentinien-Ausstellung sind ins Deutsche übersetzt von Lea Hübner.

Viel Spaß mit Comics aus Argentinien wünschen Lea und das CIB-Team!